ERANOS ist ein geistiges Fest,
zu dem die Eingeladenen Eigenes mitbringen, eine Rede
zum Beispiel, oder ein Lied, einen Trunk, oder auch und
nicht zuletzt die Offenheit, beim gemeinsamen Gespräch
in der Runde schöpferisch zu improvisieren.
Diese Idee geht zurück auf platonische
Vorstellungen und sie wurde mit der deutschen Romantik
wiederbelebt. Einen besonderen Ausdruck erhielt sie zu
Beginn des 20. Jahrhunderts im "Heidelberger Eranos",
dem unter anderem Ernst Troeltsch und Max Weber
angehörten.
Die Idee hatte auch der
Religionswissenschaftler Rudolf Otto im Sinn, als er der
Initiatorin der Eranos-Tagungen in Ascona (Tessin), der
Holländerin Olga Froebe-Kapteyn, den Namen ERANOS für
jenes geistige und zivilisatorische Abenteuer vorschlug,
welches sie 1933 begann. Gelehrte ganz verschiedener
Herkunft und Ausrichtung versammeln sich für eine
bestimmte Zeit, acht Tage lang, leben zusammen an einem
Ort und sprechen, jede(r) zwei Stunden lang in einem
Vortrag über das, was er oder sie aus eigener
Inspiration zu einem zuvor allgemein gestellten Thema
sagen möchte. "Yoga und Meditation im Osten und Westen"
lautete das Thema im ersten Jahr von ERANOS; in den
folgenden Jahren sprachen die Teilnehmer an der Table
Ronde über Themen wie "Gestalt und Kult der Großen
Mutter", "Die Mysterien", "Aus der Welt der Urbilder"
oder "Der Mensch und das Schöpferische".
Wer hätte 1933 geglaubt, daß die ERANOS-Tagungen von da
an bis heute stattfinden und in neuester Zeit zu Themen
wie "Strukturen des Chaos" (1991), "Die Wahrheit der
Träume" (1995), "Die Sprache der Masken" (1998),
"Propheten und Prophezeiungen" (2001), "God or Gods?"
(2005), "The Virtues of Tolerance" (2013) fortgesetzt
würden? Und wer hätte gedacht, daß sich ERANOS in einer
außerordentlichen kulturellen und methodischen
Diversität der Disziplinen – Vergleichende
Religionswissenschaft, Sinologie, Islamistik,
Ägyptologie, Chemie, Biologie, Physik, Mythenforschung,
Indologie, Literaturwissenschaft, Politische
Wissenschaften, Philosophie, Zen-Buddhismus, Mystik,
Kabbala, Neuplatonismus, Gnosis, ... – entfalten und
gerade darin das Eine des menschlichen Geistes in seiner
Vielfalt lebendig machen würde?
Das Leben von ERANOS kommt aus der inspirierten
Wissenschaft seiner Redner. Bei deren Auswahl folgte
Olga Froebe-Kapteyn einer klaren Vorstellung. Wer bei
ERANOS rede, "schaut in die Fülle seiner inneren
Gesichte und sucht sie in einer wissenschaftlichen Form
zu bändigen". Diese Verbindung von
imaginativ-schöpferischem und streng wissenschaftlichem
Denken blieb für ERANOS das gültige Prinzip. Daraus
erklärt sich vielleicht, warum ERANOS die in ihren
Gebieten besonders innovativen Gelehrten anzog.
Mircea Eliade schrieb zu ERANOS: "On peut rapprocher
cette forme de création culturelle de certains 'cercles'
de la Renaissance italienne ou du Romantisme allemand".
Wer einmal die Geschichte von ERANOS schreiben wird,
wird über diese oder eine ähnliche Gedankenverbindung
dann mehr sagen können. Aber man geht gewiß nicht fehl,
wenn man sagt, daß seit über einem Jahrhandert mit einer
ERANOS-Tagung - in Heidelberg, in Ascona, in Pisa, in
Târgu-Neamt (Rumänien) ... - immer wieder das Wunder
geschieht: die Entstehung eines Kosmos von Wissen, in
dem die Dinge, die sonst getrennt sind, zusammenkommen.
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